Von der hierarchischen, funktionsorientierten Organisation zur hybriden Struktur
Herr Dr. List, Sie haben in Ihrem Unternehmen eine erfolgreiche Finance Transformation durchgeführt. Können Sie das Projekt kurz beschreiben? Was waren die wirklich grundlegenden Veränderungen?
List: Kurz beschrieben haben wir unsere ehemals hierarchische, abteilungsorientierte Finanzorganisation in eine agile, prozessorientierte Organisation überführt. Das bedeutet, dass man sich wirklich abkehrt vom Denken in Abteilungen, hin zu einem (Selbst-) Verständnis in Rollenbildern. Dies ist vor allem auch eine Veränderung im Kopf. Das Verständnis zu entwickeln, dass ein einzelner Mensch mehrere Rollen innehat – die sich zudem über die Zeit noch verändern können. Eine zweite große Veränderung war, die Organisation aus der Perspektive der Prozesse zu betrachten. Traditionell hat man Abteilungen und diese Abteilungen haben Prozesse in irgendeiner Form. Ein Kernelement der Transformation war es, die aktuellen Organisations- und Teamstrukturen außer Acht zu lassen und zu überlegen wie die Organisation zu gestalten ist, wenn eine reine prozessuale Betrachtung erfolgt. Und danach richten sich dann erst die Teamstrukturen und es entscheidet sich, wer wo woran arbeitet.
Können Sie das kurz beschreiben? Welche Funktionsbereiche gab es vorher, welche Prozessbereiche gibt es jetzt?
Vorher gab es das klassische Accounting, das Controlling und einige Gruppenfunktionen wie Treasury, interne Revision oder Tax, die separat hierarchisch an der CFO-Funktion hingen. Diese wurden nun in einen Prozessfluss gegossen. Die Information Factory produziert die Finanzinformationen, das neu geformte Information Repository ist für das geeignete Ablegen der Daten und die Verwaltung der Systeme zuständig. Diese produzierten und abgelegten Daten werden nun vom Business Partnering analysiert und interpretiert sowie vom Information Design visualisiert. Schlussendlich zieht Corporate Governance die Klammer über alle Einheiten und sorgt für geordnete Abläufe.
Welche Herausforderungen begegnen Unternehmen häufig während einer Finance Transformation?
List: Die Herausforderungen sind grundsätzlich die wie bei jedem größeren Veränderungsprojekt. Man muss die Menschen auf dieser Reise mitnehmen, wenn man das nicht tut, ist es unmöglich eine Transformation erfolgreich zu gestalten. Hierzu muss von Beginn an das Zielbild klar definiert sein und das Unternehmen muss zeigen können, dass dieses letztendlich zu einem besseren Ergebnis führt als im Status Quo. Wir hatten das vielleicht etwas leichter, denn Veränderungswille ist bei BHS Corrugated einer unserer zentralen Unternehmenswerte.
Häufig ist es so, dass ein Individuum die jetzige Situation selbst gar nicht so optimal findet. Dennoch fällt es ihm leichter, in diesem leicht suboptimalen Zustand zu verharren. Der Zustand ist immerhin bekannt und sich in neue – unbekannte – Gefilde zu bewegen, ist mit Unsicherheit verbunden, was für die meisten Menschen unangenehm ist. Aber echtes Wachstum findet nur außerhalb der Komfortzone statt und man muss die unterschiedlichen Charaktere auf diesem Weg begleiten. Im Zentrum gilt es auch hier, die Menschen zu überzeugen, dass sie verstehen, warum sie dies tun.
Petschmann: Wichtig ist zu akzeptieren, dass Menschen keine Veränderungen mögen. Es ist vollkommen richtig, dass alle Personen mitgenommen werden müssen und ihnen die Veränderung begreiflich gemacht werden muss. Wenn das Ziel klar definiert ist, verstehen Menschen zwar häufig, dass die gestiegenen Anforderungen von außen diese Transformation bedingen. Sobald sie jedoch merken, dass sie selbst direkt davon betroffen sind, kommt es dann doch zu einer emotionalen Welle bzw. zu Reaktionen der Ablehnung. Und dies geschieht, selbst wenn die Transformation – objektiv betrachtet – eigentlich ausschließlich positive Veränderungen mit sich bringt. Sich mit Veränderungen konfrontiert zu sehen, ist etwas, mit dem sich Menschen wahnsinnig schwertun. Diesem Umstand muss man von vornherein mit einem guten Kommunikationskonzept begegnen und stets einen sensiblen Blick auf diese Thematik haben. BHS Corrugated hat mit dem hybriden Ansatz einen sehr guten Weg gefunden, diese Anforderungen sowohl im Zielmodell als auch auf dem Weg dorthin zu berücksichtigen.
Was sind die Vorteile einer solchen „hybriden Organisation“ im Vergleich zu vollständig agilen Organisationen?
List: Es wird sicher Unternehmen geben, bei denen eine vollständig agile Organisation funktioniert, die auf der grünen Wiese aufgebaut wird. Ich glaube aber, dass es trotzdem gerade in der Finanzabteilung gewisse Grundprozesse gibt, die nun einmal notwendig sind, wie eine Buchhaltung oder eine Reporting-Struktur, und man sollte sich schon anhand dieses Grundgerüsts entlanghangeln. Daher bin ich überzeugt, dass insbesondere für eine Finanzorganisation diese hybride Organisation einem „extremen“ agilen Ansatz überlegen ist. Für uns bedeutet dies, dass wir nun in sogenannten Units zusammenarbeiten, aber natürlich müssen wir auch weiterhin Aufgaben wie z.B. Buchhaltung oder die Erstellung des Jahresabschlusses gemäß regulatorischen oder gesetzlichen Vorgaben erledigen.
Petschmann: Man muss sich zunächst die Frage stellen, wie realistisch es ist, ein „klassisch“ strukturiertes Unternehmen in eine vollkommen agile Struktur zu führen.
Es gibt zwar Beispiele, wo dies in einer sehr absoluten Form durchgeführt wurde. Die Konsequenz ist aber, dass dies mit einem großen Wechsel von Menschen einhergeht. Viele der bestehenden Mitarbeiter:innen werden das Unternehmen verlassen und viele neue Mitarbeiter:innen müssen geholt werden, die das neue „agile“ Mindset direkt ohne Umstellungszeit mitbringen. Das ist meines Erachtens aber nicht die Zielsetzung und kein sinnvoller Weg.
Auch ist die Frage, ob eine vollkommen agile Unternehmensstruktur überhaupt zum jeweiligen Geschäftsmodell passt. Und gerade für Zentralfunktionen, wie die Finanzfunktion, ist eine hybride Form der bessere Weg.
Abb. 2 Gestaltung einer hybriden Organisation
Quelle: BHS Corrugated
Was ist denn dann der Unterschied der neu definierten Units im Vergleich zu klassischen Abteilungen?
List: Die Unit versteht sich als Teil des Prozesses und dies zu Lasten der klassischen Abteilungsorganisation. Dies bedeutet, dass die Führungskräfte dieser Units akzeptieren müssen, dass für spezifische Prozesse die disziplinarische Führungsstruktur zweitrangig ist. Mitarbeiter:innen arbeiten in ihren Rollen eventuell in anderen Teams mit und dort gibt es dann nicht diese klassische Kontrolle und Berichtsstruktur, wie man sie aus einer klassischen Abteilung kennt, bei der dann alles in einem Abteilungsmeeting zusammengeführt wird. Daher ist die ganze Transformation wahrscheinlich für die Führungskräfte noch eine viel größere Umstellung, da in einer hierarchischen Welt häufig der Informationsaustausch noch immer über die Hierarchiestufen „nach oben“ erfolgt. In einer traditionellen Organisation bedeutet das, dass Arbeit erst dann beginnt, wenn der Vorgesetzte seine Zustimmung gegeben hat. Und dies ist bei unseren Units gerade nicht der Fall, da die Aufgaben nicht der Abarbeitung der Hierarchie folgen, sondern dem Prozess.
Abb. 3 Unit-Struktur bei BHS
Quelle: BHS Corrugated
Das Interview ist ein Vorabdruck aus Controller Magazin, Ausgabe Juli/August 2025.