Erlass der Säumniszuschläge setzt nicht zwingend AdV im gerichtlichen Verfahren voraus

Grundsätzliches
Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1% des rückständigen Steuerbetrages zu entrichten (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO). Säumniszuschläge entstehen kraft Gesetzes, ohne dass es einer Festsetzung durch Verwaltungsakt bedarf. Sie sollen zur rechtzeitigen Zahlung der Steuer anhalten.
Nach Auffassung des BFH ist die Höhe des Säumniszuschlags auch ab 2019 verfassungsgemäß (BFH, Beschluss v. 17.7.2024, X B 79/23, v. 16.7.2024, XI B 37/23 und v. 21.3.2025, X B 21/25 (AdV)). Strittig ist gegenwärtig die Höhe der Aussetzungszinsen ab 2019 (BFH-Vorlagebeschluss v. 8.5.2024, VIII R 9/23, BFH/NV 2024, 1207, Az. beim BVerfG: 1 BvL 8/24 und zur Gewährung der AdV: BFH, Beschluss v. 24.10.2024, VI B 35/24 (AdV), BStBl II 2025, 70); das beim BVerfG anhängige Verfahren strahlt nicht auf die Höhe des Säumniszuschlags aus.
Wird eine zunächst ergangene Steuerfestsetzung später aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO berichtigt, so bleibt der bis dahin verwirkte Säumniszuschlag bestehen (§ 240 Abs. 1 Satz 4 AO).
Die Entstehung von Säumniszuschlägen erfordert aber die Vollziehbarkeit des Steuerbescheides. Ab dem Zeitpunkt der Gewährung der Aussetzung der Vollziehung wird ein Säumniszuschlag nicht verwirklicht (BFH, Urteil v. 30.3.1993, VII R 37/92, BFH/NV 1994, 4). Durch eine Aussetzung der Vollziehung wird die Entstehung des Säumniszuschlags verhindert – durch die Aufhebung der Vollziehung sogar rückwirkend (BFH, Urteil v. 29.8.1991, V R 78/86, BStBl II 1991, 906).
Ist ein Steuerbescheid zunächst vollziehbar und wird die angefochtene Steuerfestsetzung später aufgehoben oder zu Gunsten des Steuerpflichtigen geändert, ändert dies an der ursprünglichen Fälligkeit der Steuer nichts. Der Gesetzgeber hat mit der ausdrücklichen Regelung in § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bewusst in Kauf genommen, dass Säumniszuschläge auch dann zu entrichten sind, wenn sich die Steuerfestsetzung später als unrechtmäßig erweist (BFH, Urteil v. 7.7.1999, X R 87/96, BFH/NV 2000, 161, v. 30.3.2006, V R 2/04, BStBl II 2006, 612).
Aus sachlichen Billigkeitsgründen kann dieser entstandene Säumniszuschlag ganz oder teilweise erlassen werden (§ 227 AO). Ein Erlass kommt jedoch nur in Betracht, wenn der Steuerpflichtige alle außergerichtlichen und gerichtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um die Aussetzung der Vollziehung zu erreichen, diese aber – obwohl möglich und geboten – vom Finanzamt und vom Finanzgericht abgelehnt worden ist (AEAO zu § 240 Nr. 5 Buchst. f); BFH, Urteil. v. 24.4.2014, V R 52/13, BStBl II 2015, 106).
Vom BFH zu klärende Frage
Der BFH hatte die Frage zu entscheiden, ob ein Säumniszuschlag selbst dann zu erlassen ist, wenn eine rechtswidrige Steuerfestsetzung aufgehoben wird, aber nach erfolgloser Beantragung der AdV beim Finanzamt kein Antrag auf AdV beim Finanzgericht gestellt wird.
Sachverhalt: Zunächst fällige Einkommensteuer wird erst nach Fälligkeit ausgesetzt
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt verhielt sich folgendermaßen:
- Gegenüber den zusammenveranlagten Klägern erließ das Finanzamt am 3.12.2018 einen geänderten Einkommensteuerbescheid 2012.
- Beim Kläger wurde eine verdeckte Gewinnausschüttung von rd. 4 Mio. EUR und bei der Klägerin in Höhe von rd. 210 Tsd EUR erfasst und mit der Abgeltungsteuer (§ 32d Abs. 1 EStG) besteuert.
- Beim Kläger resultierte die vGA aus einem vermeintlichen Darlehensverzicht gegenüber einer Gesellschaft.
- Die sich aus dem Änderungsbescheid ergebende Nachzahlung von rd. 1,1 Mio. EUR wurde am 7.1.2019 fällig.
- Die Kläger legten hiergegen Einspruch ein und beantragten die Aussetzung der Vollziehung ab Fälligkeit.
- Mit Bescheid v. 15.2.2019 lehnte das Finanzamt die beantragte AdV ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos. Die Einspruchsentscheidung erging am 2.10.2019. Lediglich ein Betrag von rd. 1.700 EUR wurde ausgesetzt.
- Am 18.10.2019 wurde erneut AdV beantragt; diese lehnte die Finanzverwaltung am 29.10.2019 ab.
- Nachdem am 27.12.2019 eine berichtigte Bilanz zum 31.12.2012 mit Ausweis einer Darlehensforderung durch die Gesellschaft eingereicht wurde, setzte das Finanzamt ab dem 27.12.2019 fast den gesamten ursprünglichen Nachzahlungsbetrag aus.
- Der Einkommensteuerbescheid 2012 wurde danach erneut geändert. Der sich danach ergebende Nachzahlungsbetrag war am 6.3.2020 fällig.
- Der Bescheid weist auch bereits entstandene Säumniszuschläge von rd. 140.000 EUR aus. Das Finanzamt setzte die fälligen Beträge aus. Die Kläger beantragten den Erlass der ab dem 7.1.2019 entstandenen Säumniszuschläge aus Billigkeitsgründen (§ 227 AO).
Das Finanzamt lehnte einen Billigkeitserlass ab.
FG Berlin-Brandenburg: Kein Erlass der Säumniszuschläge
Das FG Berlin-Brandenburg (Urteil v. 22.11.2022, 5 K 5146/21, EFG 2023, 1121) lehnte den Erlass der entstandenen Säumniszuschläge ab. Zwar wurde die ursprüngliche Steuerfestsetzung später aufgehoben. Jedoch haben die Kläger nicht alles getan, um eine AdV zu erreichen. Aus dem Erfordernis „alles zu tun“ folge, dass nach erfolgloser Beantragung einer AdV bei der Finanzbehörde auch ein Antrag auf AdV beim FG zu stellen sei.
Entscheidung: Erlass der Säumniszuschläge setzt nicht zwingend die AdV im gerichtlichen Verfahren voraus
Der BFH hielt die Revision für begründet. Die Entscheidung der Vorinstanz wurde aufgehoben und an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Er begründete dies im Wesentlichen wie folgt:
- Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung im Einzelfall aus persönlichen oder sachlichen Gründen unbillig wäre. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis zählen auch Säumniszuschläge (Rz. 15).
- Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung („können“), die gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbar ist (§ 102 FGO, Rz. 16).
- Säumniszuschläge bleiben verwirklicht, selbst wenn die Festsetzung einer Steuer aufgehoben oder geändert wird (Durchbrechung des Grundsatzes der Akzessorietät; Rz. 20).
- Ein Erlass aus sachlicher Unbilligkeit kann dann aber in Frage kommen, wenn der Steuerpflichtige alles getan hat, um vorläufigen Rechtsschutz (AdV) zu erreichen.
- Für eine Bemühung um einen substantiierten Rechtsschutz genügt eine „ernsthafte“ Einspruchsbegründung (§ 357 Abs. 3 Satz 3 AO).
- Die sachliche Billigkeit ist einzelfallbezogen (Rz. 24, 25). Da die Umstände des Einzelfalls beim Billigkeitserlass zu beachten sind, gibt es für die Erlassgewährung keine starre Verpflichtung, gegen eine AdV-Ablehnung gerichtlich vorzugehen (Rz. 27).
Praxisfolgen
Der Rezensionsentscheidung kommt hohe praktische Bedeutung zur Verhinderung der im Gegensatz zu den AdV-Zinsen hohen Säumniszuschläge zu.
Bei fälliger Steuerfestsetzung musste der Steuerpflichtige zur Erreichung eines Erlasses der Säumniszuschläge bislang alle außergerichtlichen und gerichtlichen Möglichkeiten zur Erlangung der AdV ausgeschöpft haben. Dies schloss bislang zwingend auch die Führung eines gerichtlichen AdV-Verfahrens ein (AEAO § 240 Rz. 5 Buchst. f). Diese starre Obliegenheit lasse sich – so der BFH in der Besprechungsentscheidung – aus der bisherigen Rechtsprechung jedoch nicht entnehmen. Vielmehr seien die Umstände des jeweiligen Einzelfalls bedeutsam. Dies eröffnet neue Möglichkeiten zum erfolgreichen Antrag auf Erlass von Säumniszuschlägen, selbst wenn der vorläufige Rechtsschutz nicht zusätzlich in einem gerichtlichen Verfahren beantragt wurde. Die Entscheidung ist für alle noch offenen Fälle bedeutsam.
BFH, Urteil v. 25.2.2025, VIII R 2/23; veröffentlicht am 22.5.2025
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